„Stroke-Units müssen als Hochverlässlich­keitseinrichtungen funktionieren“

Berlin, Oktober 2023 – Schlaganfallversorgung gestern, heute und morgen: Es ist viel in Bewegung. Eines aber ist klar: Ohne Professor Otto Busse (links) würde die Krankenhauslandschaft rund um den Schlaganfall heute in Deutschland anders aussehen. Auch durch seine Aktivitäten wurde der Schlaganfall überhaupt erst eine neurologische Erkrankung. Vor rund 30 Jahren baute Busse die ersten Stroke-Units in Deutschland auf und beriet andere Kliniken in puncto Ausstattung und Personal – bis schließlich das Zertifizierungsnetzwerk stand. Bis vor wenigen Tagen war der heute 83-jährige Wahlberliner immer noch Sprecher der Stroke-Unit-Zertifizierungskommission und aktiver Berater der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG). Jetzt, im Oktober, hat er sämtliche Ämter an seine Nachfolger übertragen und zieht sich endgültig aus dem aktiven Wirken zurück. Im Gespräch mit Professor Darius Nabavi (rechts), dem ersten Vorsitzenden der DSG sowie Chefarzt der Neurologie im Vivantes Klinikum Neukölln, beleuchten beide Männer die aktuellen Entwicklungen der Krankenhausreform wie auch die Geschichte der Stroke-Units.

Herr Prof. Busse, heute verfügt Deutschland über rund 350 zertifizierte Stroke-Units, auf denen 80 Prozent aller Schlaganfallpatienten versorgt werden. Hätten Sie das je gedacht?

Busse: Die Stroke-Unit-Entwicklung ist wirklich eine Erfolgsgeschichte. Wir haben es trotz zahlreicher Widerstände in Deutschland geschafft, dass sich das Konzept der Stroke-Unit in den 90er Jahren durchgesetzt hat. Im Gegensatz zu bereits bestehenden interdisziplinären, überwiegend rehabilitativen Schlaganfalleinheiten, z.B. in Skandinavien, war das Neue an dem deutschen Konzept das apparative Monitoring in den ersten kritischen Tagen. Es hat allerdings noch bis 2006 gedauert, bis die Komplexpauschale endlich eingeführt und die Stroke-Unit-Behandlung angemessen vergütet wurde. Das ist der gesamten Neurologie auch wirtschaftlich sehr zugute gekommen, die damals drohte, in Richtung eines ambulanten Faches zu driften.

Nabavi: Es ist das große Verdienst führender deutscher Schlaganfallvertreter um Otto Busse, dass der Schlaganfall heute als neurologische Erkrankung anerkannt ist. Früher war der Schlaganfallpatient häufig bei den Internisten und teils sogar breit verstreut im Krankenhaus zu finden – was aus Sicht von uns Neurologen höchst unbefriedigend war. Man stelle sich dieses Szenario für den Herzinfarkt vor… Kaum vorstellbar!

Von der Inbetriebnahme der ersten Station bis heute also eine Erfolgsgeschichte?

Busse: Ja und nein. Im Moment sehe ich die Gefahr, dass sich die Stroke-Units inflationär entwickeln – auf Kosten der Qualität. Die Einnahmen durch die Schlaganfall-Komplexpauschale sind für die Kliniken attraktiv. Deshalb wollen viele Kliniken an der Akutversorgung teilhaben. Wir hatten uns damals das Ziel zwischen 250 und 300 Stationen gesetzt, um eine qualitativ gute wie auch flächendeckende Versorgung gewährleisten zu können. Heute sind es viel mehr Stroke-Units, auch wenn die Zahl der Schlaganfallpatienten nicht stark gestiegen ist. Aus meiner Sicht müssen wir die Kriterien einer Zertifizierung sehr hoch hängen! In einem kleinen Krankenhaus – ohne hauptamtliche internistische Abteilung oder Intensivtherapiemöglichkeiten – sollten keine Schlaganfälle behandelt und somit auch keine Stroke-Units zertifiziert werden. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass wir überwiegend die Voraussetzungen guter Qualität prüfen, die aber nicht unbedingt 24/7 gewährleistet sein muss.

Der Schlaganfall wird in der Krankenhausreform von Gesundheitsminister Lauterbach auch an Zentren verankert gesehen.

Nabavi: Ich sehe in der aktuellen Krankenhausreform eine Chance für eine noch bessere Schlaganfallversorgung! Ja, der Schlaganfall ist eine zeitkritische Volkskrankheit und der Patient sollte innerhalb von 30 Minuten an einem Standort sein, wo eine Lysetherapie eingeleitet werden kann. Aber wir haben eine ganze Reihe von Kleinststandorten ohne zertifizierte Stroke-Unit mit manchmal nur ein bis zwei Schlaganfallpatienten pro Woche. Es ist nachvollziehbar, dass es dann an Training und Expertise mangelt. Wir sind der Meinung: Nicht alle diese Standorte werden gebraucht. Um Kleinststandorte z.B. telemedizinisch zu versorgen, muss ein Region spezifischer Bedarf bestehen. Das Instrument, um einen solchen Bedarf messen zu können, haben wir bereits entwickelt. Man kann auch nicht alle über einen Kamm scheren, aber der Zwang zur Bündelung – auch wegen der sich noch zuspitzenden Personalsituation – kann durchaus Positives bewirken.
Allerdings: So eine Veränderung kann nicht von heute auf morgen passieren. Das muss mit Augenmaß erfolgen. Wir können uns Länder wie Dänemark als Beispiel nehmen, hie und da auch Schweden. Und dabei gilt auch: Die Versorgungsstruktur muss zur „Gesundheitskultur“ und zur Bevölkerung des Landes passen! Und hier unterscheiden wir uns von Skandinavien. Da bedarf es noch viel Überzeugungsarbeit.

Busse: Eigentlich wird heute auch das, was die Stroke-Unit ausmacht, viel zu wenig berücksichtigt. Wir dürfen uns nicht ausschließlich auf die Perakut-Phase fokussieren. Das gilt insbesondere für den Tele-Stroke-Unit-Boom, wenn ich das so nennen darf. Ja, es ist zweifellos von eminenter Bedeutung, dass der Patient schnell kommt und dann schnell lysiert sowie schnell thrombektomiert wird. Aber darum geht es nicht nur! Das primäre Konzept der Stroke-Unit ist doch, dass wir den Patienten über mehrere Tage engmaschig überwachen, um eine mögliche Verschlechterung oder ein Rezidiv unmittelbar bemerken zu können. Die Stroke-Unit ist also auch eine Präventiv-Einrichtung. Bei kardiologischen Patienten können Sie einfach am EKG eine Verschlechterung ablesen. Bei Schlaganfallpatienten nicht. Meine Vorstellung in der Planungsphase in den 90ern war deshalb, dass es sich bei der Stroke-Unit um eine Einheit handelt, wo die Patienten unter ständiger Beobachtung des Pflegepersonals sind, die dann unmittelbar feststellen, ob beispielsweise die Lähmung schlechter wird oder plötzlich eine Sprachstörung auftritt. Das ist aber vielfach schon aus baulichen Gründen in den meisten Kliniken nicht möglich.

Der Tennissport spielt in Ihrem Leben eine wichtige und große Rolle – bis heute. Allerdings haben den Gerüchten nach auch einige Sandplatz-Matsches die Entwicklung der Stroke-Units beflügeln können…

Busse: Ich darf an dieser Stelle gerne verraten, dass das ein oder andere Tennis-Match wahrscheinlich wirklich dazu beigetragen hat, dass die Schlaganfallbehandlung auf der Stroke-Unit schließlich durch die Krankenkassen vergütet wurde. Das hat schließlich der Kassenvertreter von Westfalen-Lippe veranlasst, der ein recht guter Tennisspieler war – und so konnte ich auf dem Platz Überzeugungsarbeit leisten. Der Tennisplatz und die Geschichte der Entwicklung der Stroke-Unit sind also untrennbar miteinander verbunden (lacht).
Der Anfang war wirklich schwer, das kann sich keiner heute mehr vorstellen. Ich war seit 1983 in Minden und hatte Feuer gefangen. Von Beginn an habe ich dort die Patienten mit Schlaganfall übernommen, da ich hierzu auch habilitiert hatte. Das war und ist einfach mein Thema. So habe ich später das Konzept der Stroke-Unit versucht, in Minden aufzubauen. Das wurde aber nicht vom Klinikträger unterstützt und ich hatte Gegenwind von den Kollegen. Also habe ich für die Finanzierung Klinken geputzt und hatte das große Glück, dass die Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe sehr frühzeitig die Idee sehr gut fand, Stroke-Units in Deutschland zu etablieren. Die Präsidentin der Stiftung, Liz Mohn, und ich haben dann gemeinsam Termine bei der Industrie gemacht – und konnten fast 900.000 – damals noch Deutsche Mark – einwerben. Damit ist die Stroke-Unit in Minden gebaut worden, als dritte dieser Art in Deutschland. Meine Station war als Ideal des Konzepts Stroke-Unit also fertig – um dann noch einmal ein Dreivierteljahr leer stehen zu müssen, weil ich kein Geld für den Betrieb, also vor allem Personal, bekommen habe. Damit die Stroke-Unit in den Landesbedarfsplan kam, mussten die Krankenkassen die Vergütung übernehmen – und damit haben wir den Kreis zum Tennis-Match wieder geschlagen. Denn ja, dafür war ich dann mehrfach mit den Entscheidern Tennis spielen. Es hat geklappt. Es hat sich gelohnt!

Herr Prof. Nabavi, Sie und Herrn Prof. Busse trennen 26 Jahre. Und auch Sie beide waren erst neulich zusammen Tennis spielen. Was nehmen Sie noch als To-dos von ihm für die zukünftige Arbeit der DSG mit?

Nabavi: Ich schätze Otto Busse als Sparringspartner in jeglicher Hinsicht – beim Tennis wie bei der Analyse der aktuellen Aufgaben von uns als Schlaganfallgesellschaft. Qualität zu definieren und zu schauen, was wirklich machbar ist: Hier habe ich immer seine Stimme im Ohr. Stroke-Units müssen als Hochverlässlichkeitseinrichtungen funktionieren. Die DSG zertifiziert diese. Damit tragen wir in gewisser Weise auch Mitverantwortung für die Qualität der Patientenversorgung. Alle drei Jahre überprüfen wir die Qualitätskriterien und unterziehen diese damit auch einem Realitätscheck. Das fehlende Personal bleibt Herausforderung Nummer eins. Und zwar nicht nur in der Pflege. Der Bedarf an Thrombektomien steigt beispielsweise immer weiter an, aber wir haben zu wenig Neuro-Interventionalisten. Die Belastung der Berufsgruppe ist deshalb hoch, Burn-outs häufen sich oder die Kollegen verlassen die Klinik und gehen in die Praxis. Hier müssen wir im Verbund mit unseren Kooperationspartnern der Neuroradiologie kluge Konzepte etablieren. Auch wissen wir von vielen Stroke-Units, die nicht dauerhaft alle Betten betreiben können, weil Pflegekräfte fehlen. Dadurch werden die Patienten mitunter zu kurz in der Stroke-Unit behandelt, an manchen Standorten häufen sich sogar Abmeldungen vom Rettungsdienst. Das große Thema Personal wird uns sicherlich noch lange begleiten.

Sie waren allerdings mit einer der Ersten, Herr Prof. Busse, der die Bedeutung der Pflege schon vor vielen Jahren hervorgehoben hat. Der Teamgedanke war zu der Zeit eigentlich noch nicht verbreitet.

Busse: Ja, das ist richtig. Ich war und bin immer noch der Meinung, dass die Pflege das A und O ist, weil es die Pflegekräfte sind, die die Patienten kontinuierlich sehen und erleben. Ohne die Pflegenden und Therapeuten geht es nicht. So konnte ich auch in einer Studie sogar zeigen, dass erfahrene Pflegende den NIH-Score verlässlicher anwenden konnten als junge Assistenzärzte. Denn das Pflegepersonal ist eben häufiger beim Patienten.
Daraus hat sich schließlich das DSG-Pflegezertifikat entwickelt. Mein damaliger Oberarzt, Dr. Joerg Glahn, hatte – bevor er Medizin studierte – eine Krankenpflegeausbildung hinter sich und wusste, was Sache ist. Wir beide haben dann schon frühzeitig in Minden den Pflegekurs für die Stroke-Units konzipiert …

Nabavi: … und heute gibt es 25 DSG-akkreditierte Ausbildungszentren, die wirklich sehr, sehr viele hervorragende Pflegekräfte ausbilden. Hier war die DSG, auch dank Otto Busse, der Zeit weit voraus.

Keiner kennt die Landschaft der Stroke-Units so gut wie Sie, Herr Prof. Busse. Und Sie wollen jetzt wirklich aufhören?

Busse: Ja, irgendwann muss auch mal Schluss sein. Es gab Zeiten, da hatte ich 20 Zertifizierungen pro Jahr. Das habe ich in den letzten Jahren nur noch aushilfsweise gemacht. Ich kenne auch nicht jede Stroke-Unit in Deutschland, aber doch die meisten.

Nabavi: Otto Busse hat immer auch den persönlichen Kontakt zu kleinen Häusern gesucht. Er war 25 Jahre lang Chefarzt eines nicht-universitären Hauses. Er hat nie einen Elfenbeinturm-Blick gehabt, sondern immer die gesamte Breite der Versorgungslandschaft gesehen. So hat er uns gelehrt, dass wir eine Balance zwischen Klein und Groß finden müssen. Denn wir müssen uns immer wieder klar machen: Die Mehrzahl der Schlaganfälle wird in Häusern der Grund- und Regelversorgern behandelt! Es ging und geht uns immer auch darum, regionalspezifische Lösungen zu finden. Vielleicht brauchen wir künftig auch unterschiedliche Maßstäbe für Ballungsräume und ländliche Gebiete? „Wir müssen die Sorgen und Nöte in der Fläche noch einmal ganz anders betrachten“, hat er einmal gesagt. Und das ist auch eine Stärke unseres Zertifizierungsverfahrens: Es geht nicht allein um Zahlen, Daten und Fakten, sondern es werden konkrete Aspekte des Praxisalltages – quasi die gesamte Versorgungskette – beleuchtet. Es muss uns gelingen, dies künftig zu bewahren, auch ohne seine Mitarbeit.

Busse: Ich bin mir sicher, dass es das wird! So habe ich ja Schritt für Schritt meine Aufgaben reduziert und übergeben. Wir haben die Übergangsphase großzügig gestaltet. Jürgen Faiss ist in allen Punkten mein Nachfolger und hat jetzt seit Oktober alle Aufgaben im Zertifizierungsverfahren vollständig übernommen. Er kennt das Zertifizierungsverfahren aus dem Effeff. Auch hat Jürgen Faiss wie ich mehr als 25 Jahre eine – nein, sogar zwei! – neurologische Kliniken geleitet und versteht etwas vom Schlaganfall. Er ist ja auch bereits seit zwei Jahren der Geschäftsführer der DSG. Insofern gehe ich mit einem guten Gefühl!

PORTRÄT Prof. Dr. med. Otto Busse

Otto Busse, Jahrgang 1940, ging nach seiner neurologischen, psychiatrischen und neuroradiologischen Ausbildung in Dortmund, Heidelberg und Hannover 1977 als Leitender Oberarzt an die Neurologische Universitätsklinik Gießen. In Gießen habilitierte er sich 1981 zum Thema der Korrelation liquorbiochemischer und computertomografischer Befunde beim ischämischen Schlaganfall. Auch war er an frühen internationalen neurovaskulären Therapiestudien – etwa zum extra-intrakraniellen Bypass, Karotischirurgie oder zur suboccipitalen Dekompressionsoperation –
beteiligt.

Im Jahre 1982 wurde Otto Busse auf eine C2-Professur für Neurologie der Justus-Liebig-Universität Gießen berufen. Von 1983 bis 2005 wirkte er als Chefarzt der Neurologischen Klinik im Klinikum Minden. Seine Klinik trug in dieser Zeit zu zahlreichen weiteren großen, internationalen Studien bei. Beispielhaft genannt seien die großen Studien zur Karotis-Thrombendarteriektomie (NASCET, ECST), alle wichtigen europäischen Thrombolyse-Studien und viele Präventionsstudien. Seit 1985 verfügt die Neurologische Klinik in Minden über eine eigenständige neurologische Intensivstation mit wissenschaftlichem Profil.

Von 1994 bis 2000 war Otto Busse Mitglied des Vorstands der Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe, baute dort das Regionalbeauftragtensystem auf und eröffnete 1996 die dritte deutsche Stroke-Unit (nach den ersten beiden in Essen). Er widmete sich dem flächendeckenden Aufbau von Stroke-Units in Deutschland, engagierte sich zusammen mit Prof. Erich Bernd Ringelstein erfolgreich für den Aufbau eines Zertifizierungssystems und setzte die Erlösrelevanz dieser Behandlung durch.

Ohne Otto Busse würde es die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft (DSG) nicht geben. Er gründete diese 2001 und war von 2001 bis 2003 deren erster Vorsitzender, später von 2005 bis 2016 zunächst Generalsekretär, dann Geschäftsführer der DSG. Bis Oktober 2023 war er immer noch ein besonders geschätzter, aktiver Berater und Ideengeber wie auch Zertifizierer. Von 2005 bis Ende 2010 war Busse der erste Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und etablierte deren Geschäftsstelle in Berlin, seiner heutigen Heimat.

Otto Busse hat für seine Leistungen bereits zahlreiche Würdigungen erfahren. So verlieh ihm 2021 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland für sein herausragendes Engagement rund um den Schlaganfall. Seit 2016 ist er Ehrenmitglied der DSG, seit 2012 der DGN. 2006 erhielt Busse das Romberg-Glas der DGN-Kommission leitender Krankenhausneurologen sowie 2002 den Erb-Becher der DGN.

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